add × Jahrestagung 2019
Brexit, Trump und globale Giganten: Wie gehen Unternehmen mit dem neuen Normal der politischen Realitäten um?
Einleitung
Als Apple 2007 das Smartphone auf den Markt brachte, ahnte kaum jemand, dass der neue ‚ipod mit Telefonfunktion‘ das gesamte Kommunikationsverhalten verändern und zum Ausgangspunkt einer neuen Digitalisierungswelle werden würde. Aktuell ist offen, welche Rolle das von Facebook im Sommer 2019 angekündigte Zahlungsmittel Libra im Spannungsfeld zwischen traditionellen Fiatwährungen und blockchainbasiertem Kryptogeld spielen wird. Das Beherrschen dieser Unsicherheit, die aus der inzwischen rasanten Entwicklung von Märkten und Geschäftsmodellen, der wachsenden Durchdringung mit digitalen Technologien oder einem globalisierten Wettbewerbsumfeld herrührt, ist Kernaufgabe unternehmerischen Handelns, dessen Gelingen sich in finanzieller Profitabilität, hohem Marktwert oder gesellschaftlichen Beiträgen im Sinne verantwortlichem Verhalten ausdrückt. In diesem Kontext leisten Finanz- und Rechnungswesen einen zentralen Beitrag zu Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit, wenn sie die erforderlichen Planungs-, Berichts- und Steuerungsinstrumente zur Verfügung stellen, die für gute unternehmerische Entscheidungen unter Unsicherheit auf allen Unternehmensebenen notwendig sind.
Seit einiger Zeit lässt sich allerdings beobachten, dass die Unsicherheit, mit der Unternehmen konfrontiert sind, erheblich ansteigt – und zwar durch Ursachen, die vor allem aus noch vor einigen Jahren undenkbaren politischen Veränderungen wie dem seit Jahren völlig ungeklärten Brexit, der offensichtlich erratischen und gleichzeitig aggressiv auf den eigenen Vorteil ausgerichteten Wirtschaftspolitik führender Industrienationen, verbunden mit einem scheinbar ungehemmt wachsenden nationalen Populismus und der Abkehr – um nicht zu sagen: Auflösung – von supranationalen Institutionen, die ihre Aufgabe, ein berechenbares politisches Umfeld zu schaffen, so kaum noch wahrnehmen können. Was all dies für die unternehmerische Praxis bedeuten kann, wurde im Rahmen der zweiten Jahrestagung des Studienschwerpunktes „audit | digitisation | data science“ (add | hhu) an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit Vertretern aus Wissenschaft und Praxis diskutiert. Sie war dem Oberthema „Brexit, Trump und globale Giganten: Wie gehen Unternehmen mit dem neuen Normal der politischen Realitäten um?“ gewidmet. Kernelemente der Veranstaltung waren die zweite Düsseldorfer Schmalenbach-Lecture, die in diesem Jahr von Guido Kerkhoff (CEO der thyssenkrupp AG) gehalten wurde, sowie eine Podiumsdiskussion, an der neben Guido Kerkhoff auch Dr. Jan Dierk Becker (Partner, PricewaterhouseCoopers), Prof. Dr. Heike Wieland-Blöse (Vorstandsmitglied, Warth & Klein Grant Thornton) und Prof. Dr. Guido Förster (Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insb. Betriebswirtschaftliche Steuerlehre) teilnahmen.
Unsicherheit zwischen Theorie und Praxis
In seinem Grußwort wies der Dekan der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, Prof. Dr. Stefan Süß, auf die zeitlose Relevanz des Themas Unsicherheit hin. Denn die erfolgreiche Umsetzung von Strategien zum Umgang mit Unsicherheit sei ein zentraler Erfolgsfaktor für die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen – einem der Schwerpunkte der Düsseldorfer Fakultät.
Dr. Maria Engels, Geschäftsführerin der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft, betonte daran anknüpfend, dass Unsicherheit ein praktisches Problem sei, welches von der betriebswirtschaftlichen Theorie zurecht adressiert werde. Dieses fundamentale Anliegen Eugen Schmalenbachs hätte auch nach 85 Jahren nicht an Relevanz verloren: „[Die Betriebswirtschaftslehre] fühlt sich durchaus im Dienste der Praxis. Die Praxis ist sozusagen ihr Kunde, und [die Betriebswirtschaft] hat die Aufgabe, den Dienst am Kunden zu pflegen.“ [Schmalenbach, Über die zukünftige Gestaltung der Betriebswirtschaftslehre, unveröffentlichtes Manuskript, 1944, S. 8] Der beide Seiten befruchtende Austausch zwischen Hochschulen und Praxis sei stets ein besonderes Anliegen von Eugen Schmalenbach gewesen.
Die betriebswirtschaftlichen Herausforderungen verdeutlichte Prof. Dr. Barbara E. Weißenberger, Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insb. Accounting, und Mitglied des Vorstands der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft, am Beispiel der Auswirkungen eines ungeordneten Brexits auf internationale Lieferketten: Allein eine durchschnittliche ungeplante Verspätung von 15 Minuten bei der Anlieferung von Bauteilen durch Zölle, Kontrolle oder neue Regulierungen führe bei einem Automobilhersteller wie Honda zu Zusatzkosten von rund 1 Mrd. € pro Jahr.
Zweite Düsseldorfer Schmalenbach-Lecture: Protektionismus, Populismus und Ablehnung supranationaler Institutionen – Perspektive eines multinationalen Unternehmens
Sozioökonomisches Umfeld
Dass aktuell „spannende Zeiten bei thyssenkrupp“ herrschen, erklärte Guido Kerkhoff, CEO der thyssenkrupp AG, mit einer Schnelligkeit und Größe an Veränderungen, wie er sie in seiner Karriere noch nicht erlebt hat. Diese sind aber nicht ausschließlich positiv. Eine Verschiebung politischer Kräfte (Brexit, Ringen um den Vorsitzenden der Europäischen Kommission, die künftige politische Ausrichtung in einigen europäischen Ländern, der mögliche Handelskonflikt zwischen den USA und China sowie die Spannungen im nahen Osten) unterminieren Vertrauen und Zuversicht – und damit die Basis für Wachstum und Wohlstand.
Eine mögliche Ursache sieht Kerkhoff in politischen Kompromissen, die schlussendlich keine der beteiligten Parteien zufriedenstellen – oder die Partikularinteressen überbetonen. Das damit einhergehende fehlende Konsensdenken widerstrebt aber der Idee supranationaler Institutionen. Aus historischer Perspektive dienen sie der Sicherung von Frieden und Wohlstand. Heute wird dies als selbstverständlich angesehen.
Gleiche Regeln im globalen Rahmen
Aus industriepolitischer Perspektive sieht Kerkhoff den wesentlichen Wert supranationaler Institutionen in der Schaffung eines ‚level playing field‘, d. h. gleicher Regulierung für gleiche Sachverhalte. Er verdeutlicht dies an drei Beispielen. Im ersten Fall geht um den globalen Wettbewerb bei Edelstahl. Zwar hat sich thyssenkrupp aus diesem Segment bereits weitestgehend zurückgezogen, globale Ungleichgewichte haben nicht zuletzt auch industriepolitische Gründe. So erhalten insbesondere asiatische Produzenten häufig staatliche Unterstützung durch Subventionen für Forschung & Entwicklung oder den bevorzugten Zugang zu wichtigen Rohstoffen wie Nickel.
Ein zweites Beispiel ist das kürzlich zurückgezogene Joint Venture für die Stahlproduktion. Weltweit werden jährlich 1,7 Mrd. Tonnen Stahl produziert, die Hälfte davon in China. Der europäische Markt nimmt lediglich 55 Mio. Tonnen auf, von diesen wären nur 20 % auf das neue Joint Venture entfallen. Kerkhoff moniert das engmaschige Vorgehen der europäischen Wettbewerbsaufsicht (DG COMP), die den Markt zu eng definiert. Globale Überkapazitäten oder wettbewerbsverzerrende Subventionen in anderen Teilen der Welt blieben dabei ohne Betrachtung. Dies „schafft keinen Raum, der zu mehr Akzeptanz [supranationaler Institutionen] führt“, so Kerkhoff.
In einem dritten Beispiel geht Kerkhoff auf den Klimawandel ein. thyssenkrupp gehört zu den „A List Companies“ laut Carbon Disclosure Project, d. h. zu den globalen Unternehmen mit der besten „environmental performance“. Importierter Stahl sei daher häufig mit deutlicher höherer CO2-Belastung produziert worden: „Ich kann mich bei Fridays for Future gleich mit einreihen. Die Ziele sind die gleichen.“
Im Ergebnis wünscht sich Kerkhoff eine verstärkte Kooperation und damit verbundenen einen weiteren Bedeutungsgewinn supranationaler Institutionen. Zwar seien deren Ergebnisse aus individueller Sicht nicht immer positiv (z. B. Untersagung des Joint Venture), doch seien sie für die Lösung der dargestellten Probleme unerlässlich. Einfache Lösungen gibt es dafür nicht. Klar sei aber: Protektionismus und Zölle verstärken allein die negativen Effekte. Vor diesem Hintergrund betont Kerkhoff zwar die Bedeutung wichtiger europäischer Player in der Industrie, warnt aber gleichsam, dass „politische Einmischung in das Unternehmensgeschehen noch nie geholfen hat“.
Ökonomische Reaktion und Prognosen
thyssenkrupp ist traditionell bestrebt, internationale Risiken durch verschiedene Strategien aufzufangen. Sinnvoll sei es, dort zu produzieren, wo die Kunden seien – mit Blick auf Währungsschwankungen und volkswirtschaftliche Risiken. Auf Konzernebene kann dies zudem durch die Finanzierungs- und Eigenkapitalausstattung gesteuert werden. Durch Investitionen oder die Verschuldung in lokalen Währungen kann ein Gleichschritt mit den Risiken erreicht werden. Währungsübergreifende Risiken können durch Hedging und Auftragsplanung adressiert werden. Hier ist ein gesicherter Business Case notwendig, da Rohstoffe und häufig auch die Fakturierung in US-Dollar erfolgen.
Parallel wird es laut Kerkhoff aber schwieriger, zutreffende Prognosen zu stellen. Heute sind Unternehmen zunehmend mit „multipolaren Problemen“ konfrontiert, bei denen die Auswirkungen der Veränderung einzelner Faktoren im Zusammenspiel nur schwer modelliert werden können. Als Beispiel nennt er die Auswirkungen des Brexit, wo völlig unklar sei, wie sich Zölle oder der Pfundkurs kurz- und langfristig verhalten.
Durch Digitalisierung und Big Data sei zwar schneller mehr Szenarien gerechnet, aber selbst deren Zuverlässigkeit ist mangels geeigneter Vergangenheitsdaten zu hinterfragen. Ein zusätzliches Problem für Unternehmen auf dem B2B-Markt sei zudem, dass die Prognose auf Ebene der Konsumenten erfolgen müssen. Diese seien aber noch schwieriger zu „durchschauen“. Mit Blick auf diese Planungsunsicherheit konstatiert Kerhoff
Wertesystem und politisches Engagement
Einen weiteren Ansatzpunkt aus Perspektive der Unternehmen sieht Kerkhoff in der neuen Verantwortung „politisch zu sein“. Die Bindekraft traditioneller Institutionen, die moralische und ethische Orientierung gaben (z. B. Parteien, Kirchen) nimmt ab. An ihre Stelle treten zweckgebundene Bewegungen und Aktivitäten. Diese vermitteln aber häufig eine unzureichende und einseitige Betrachtung (z. B. Gelbwesten, Fridays for Future), gibt Kerkhoff zu bedenken.
In diesem Spannungsfeld, das durch das zunehmend geänderte Informationsverhalten in einer schnelllebigen Zeit („Mehr Buchstaben sind nicht gleich mehr Wissen“) verstärkt wird, sieht Kerkhoff eine neue politische Rolle des Arbeitgebers. Dennoch mag es auf den ersten Blick paradox erscheinen, dass gerade die teils vielgescholtenen Top-Manager diese Rolle übernehmen sollen. Dennoch belegen internationale Umfragen die hohe Bedeutung des Arbeitgebers als vertrauenswürdige Quelle zu sozialbedeutsamen Themen für Beschäftigte. Kerkhoff sieht darin eine Kompensation für den Vertrauensverlust gegenüber traditionellen Institutionen. Zudem entspricht dies der zunehmenden Bedeutung von ‚purpose‘, d. h. der Ausfüllung einer sinnstiftenden Tätigkeit; nicht nur im Unternehmen, sondern auch gesellschaftlich: „Purpose ist wichtig. Das müssen wir als Unternehmen aufzeigen.“ Als CEO sei es daher wichtig sich einzumischen, eine Meinung zu haben.
Als Beispiel führt Kerkhoff eine Kampagne von thyssenkrupp zur EU-Wahl an, für die es seitens der Beschäftigten so viel positiven Zuspruch gab, wie zuvor nur für wenige Initiativen. Im Fokus standen dabei die positiven Effekte der europäischen Einigung (beginnend mit der Montanunion) für das Unternehmen. So sollten die Beschäftigten motiviert werden, ihrer Stimme und Meinung – ganz gleich welche das sei – am Wahltag Gehör zu verschaffen.
Derartiges Engagement ist wichtig, da thyssenkrupp eine „gemeinsame Identität“ habe. Anders könnten Beschäftigen aus über 140 Ländern und „allen Religionen dieser Welt“ auch nicht zusammenarbeiten, aber „das geht ganz wunderbar“. Eine solche Wertebasis ist unerlässlich um Sinn zu stiften und zu vermitteln. Unternehmen sollten – ganz im Sinne Krupps – ihren ‚Elfenbeintum‘ verlassen, denn: „Der Zweck der Arbeit soll das Gemeinwohl sein!“ thyssenkrupp hat dies durch eine großangelegte unternehmensinterne und -externe Umfrage zu gemeinsamen Werten und Zielen begonnen, die im Rahmen des Rebranding 2015 abgeschlossen wurde. Um Akzeptanz zu erhalten, dürfen die Werte aber nicht von der ‚Arroganz‘ einer Kultur überlagert werden. Nun ist es wichtig, die Menschen abzuholen und deutlich zu machen, wofür das Unternehmen steht; und dies dort zu kommunizieren, wo die Menschen sind. Neben diesem globalen Anspruch betont Kerkhoff aber auch die Rolle eines jeden Einzelnen, der als direkter Vorgesetzter die Werte des Unternehmens verkörpern soll.
Auf das Ungewisse schließe vom Gewissen
In einem Impulsvortrag, der sich an die Schmalenbach-Lecture von Kerkhoff anschloss, adressierte Jun.-Prof. Dr. Marcus Bravidor (Juniorprofessor für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Wirtschaftsprüfung, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf) das Spannungsfeld zwischen genereller politischer Unsicherheit und der wahrgenommen Unsicherheit der Wirtschaftspolitik. Die generelle politische Unsicherheit, gemessen durch den „Political Stability Index“ der Weltbank, ist zwischen 2017 und 2018 in Deutschland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und den USA rückläufig. Gründe dafür können in der Zunahme nationalistischer und populistischer Tendenzen gesehen werden. Dem entgegen zeigt sich, dass die Unsicherheit über die Wirtschaftspolitik sich nach einer Phase intensiver Volatilität in 2016 und 2017 in den genannten Volkswirtschaften wieder normalisiert und fast das vergleichsweise geringe Ausgangsniveau des Jahres 2014 erreicht hat.
Eine detailliertere Analyse zu den Quellen der Unsicherheit auf Grundlage der Geschäftsberichte der DAX-, MDAX-, SDAX- und TecDAX-Unternehmen zeigt ein differenziertes Bild. Die generelle Erwähnung politischer Unsicherheiten nimmt seit 2014 tendenziell zu. Während im Jahr 2014 noch Staatsschulden und die Ukraine im Fokus standen, verschob sich dies 2015 und 2016 auf die Flüchtlingsfrage. Seit 2016 zeigt sich zudem der Brexit als zunehmend bedeutungsvolle Quelle der Unsicherheit. Die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten wird zwar 2016 häufig erwähnt (93 Erwähnungen) verliert aber stark an Bedeutung (8 Erwähnungen in 2018).
Das zunehmend hohe Niveau an Unsicherheit hat realwirtschaftliche Konsequenzen. Einerseits unterlassen Unternehmen in derartigen Zeiten Investitionen [Julio & Yook, Journal of Finance 2012, S. 45–83], andererseits führen sie zu einer Verzerrung an den Kapitalmärkten [Brogaard & Detzel, Management Science 2015, S. 3–18; Kelly, Pástor & Veronesi, Journal of Finance 2016, S. 2417–2480].
Podiumsdiskussion: Auswirkungen auf Controlling, Rechnungswesen und Steuerpolitik
Überblick
In der anschließenden Podiumsdiskussion „Strategische Verwirbelungen durch Brexit & Co.: Konsequenzen für Controlling, Rechnungswesen und Steuerpolitik“ diskutierten WP StB Prof. Dr. Heike Wieland-Blöse (Warth & Klein Grant Thornton), StB Dr. Jan Dierk Becker (PwC) und Guido Kerkhoff (thyssenkrupp) über Auswirkungen der dynamischen Veränderungen auf Seite der Unternehmen sowie die angemessenen Reaktionen. Die Moderation übernahm Prof. Dr. Guido Förster (Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Betriebswirtschaftliche Steuerlehre, an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf).
Unternehmenssteuerung
Förster stellte zunächst die These auf, dass der Brexit lediglich eine Facette der aktuellen politischen Unsicherheiten sei, zu denen auch Trumps „America First“-Politik gehöre. Weitere Unsicherheiten entstünden aus dem Klimawandel, der demographischen Entwicklung sowie technologischen Fortschritten, wie der Digitalisierung. All dies führe zu einer Veränderung von Chancen und Risiken, Märkten und Geschäftsmodellen, die Unternehmen herausforderten. Dem pflichtet Wieland-Blöse bei. So sieht sich bspw. die Unternehmensbewertung völlig neuen Geschäftsmodellen gegenüber, für die Erfahrungswerte fehlen. Ein Ansatz, um dieser Unsicherheit zu begegnen, könne in der Revision der Erwartungen liegen. So werden Pharmaunternehmen z. B. schon immer über deutlich kürzere Zeiträume bewertet, um der Unsicherheit der Ertragssituation bei Patenten und Blockbuster-Produkten Rechnung zu tragen. Es sei daher zu überlegen, das Modell der ewigen Rente zu Gunsten einer Bewertung der Werttreiber aufzugeben. Somit können Bewertungen auch branchenübergreifend durchgeführt werden. Ausgangspunkt eines solchen ‚pragmatischen‘ Ansatzes könnte z. B. in der Kaufpreisallokation (PPA) nach IFRS 3 liegen, bei der ja auch zuvor verdeckte immaterielle Vermögenswerte identifiziert werden. Kerkhoff ergänzt, dass es diese Unsicherheiten auch bei etablierten Unternehmen gäbe. So würden Finanzplanung und Finanzierung schwieriger, wenn die künftigen Parameter nicht einmal auf globaler Ebene geschätzt werden könnten.
Aus Sicht von Wieland-Blöse führt dies auch zu einer geänderten internen Ausrichtung von Beratungsunternehmen. So stellten sich Unternehmensberater flexibler auf, um auf die geänderte Nachfrage zu reagieren. Die klassische Abschlussprüfung sei davon zwar weniger betroffen, da sie gesetzlich vorgeschrieben sei, aber auch hier gebe es einen verstärkten Kostendruck. Diesem werde über eine zunehmende Standardisierung und Digitalisierung interner Prozesse begegnet. Becker
Rechnungslegung und Kapitalmarkt
Unsicherheiten wirken sich auch auf ermessensabhängige Abschlusspositionen, wie z. B. aktive latente Steuern, Rückstellungen und den Impairment Test in IFRS-Abschlüssen aus. Förster stellt die Frage, ob die verstärkte Volatilität die Bewertungsschwierigkeiten erhöhe und ob mit beispielhaftem Blick auf den „Impairment Test“ etwaige Abschreibungen vom Kapitalmarkt als besonders negativ wahrgenommen würden. Kerkhoff sieht hier keinen großen Effekt, da Kapitalmärkte nach seiner Erfahrung notwendige „Impairments“ ohnehin antizipieren. Da Finanzanalysten auf simplifizierte Bewertungsmodelle zurückgreifen und ihre Erwartungen – anders als Unternehmen – recht einfach revidieren können, sei die Volatilität für sie weniger problematisch. Auch im steuerlichen Bereich sei die Rolle derartiger Unsicherheiten nicht eindeutig, ergänzt Becker. So habe z. B. die US-Steuerreform 2017 bei einigen Unternehmen zu Gewinnen (Reduzierung passivier latenter Steuern) und bei anderen zu Verlusten (Abschreibung aktiver latenter Steuern) geführt.
Unabhängig von der Volatilität in den Rechenwerken konstatiert Kerkhoff
Steuerorganisation
Becker sieht drei wesentliche Problemfelder, die die Steuerorganisation zunehmend unsicher machen:
- Internationaler Steuerwettbewerb, der mit einer Reduzierung der Referenzsteuersätze und einer Ausweitung der Bemessungsgrundlagen einhergeht.
- Abwehrgesetzgebungen, wie z. B. das „Base Erosion and Profit Shifting“-Projekt (BEPS) der OECD oder die „Anti Tax Avoidance Directive“ (ATAD) der EU, die Probleme bei der internationalen Koordination und, damit einhergehend, eine mögliche Doppelbesteuerung nach sich ziehen.
- Steuerfolgen der Digitalisierung, die sich z. B. in den Reformvorschlägen der OECD oder den nationalen Alleingängen bei der Digitalsteuer zeigen, die auf eine Sicherung der Einmalbesteuerung sowie eine Verlagerung von Besteuerungsrechten hin zu den Quellenstaaten abzielen.
Problematisch erscheint nach Ansicht von Förster vor allem die heterogene Umsetzung der BEPS-Empfehlungen, der ATAD-Vorgaben und der Anzeigepflichten für grenzüberschreitende Steuergestaltungen. Deutsche Unternehmen drohen im internationalen Wettbewerb benachteiligt zu werden, da die Vorgaben hierzulande sehr streng umgesetzt werden, während andere Staaten – wie z. B. die Niederlande oder Luxemburg – sehr großzügig verfahren. Für den deutschen Fiskus ist dies doppelt nachteilig, da die eigene Standortattraktivität sinkt und gleichzeitig die Verlagerung von Besteuerungsrechten hin zu den Quellenstaaten die hiesige exportorientierte Wirtschaft besonders betrifft.
Aus unternehmerischer Sicht sieht Becker zudem das Problem, dass steuerliche Optimierungen, z. B. bei Fremdkapital oder Lieferketten, nur langfristig geändert werden können. Andererseits konterkarieren widersprüchliche steuerpolitische Maßnahmen die positiven Aspekte von Steuerreformen, da sie die Unsicherheit erhöhen. Als Beispiel führt er die USA an. Einerseits werden Anreize geschafft, immaterielle Werte in die USA zu überführen („Foreign Derived Intangible Income“, FDII), andererseits verringert die Aussicht auf internationale Strafzölle gegen die USA diesen Anreiz wiederum. Kerkhoff
Digitalisierung und Planung
Wieland-Blöse verweist zunächst auf die positiven Auswirkungen der Digitalisierung, z. B. die gesteigerte Effizienz sowie den Aufstieg der Gewinner der möglichen Disruption. Die Finanzfunktion beschreibt Kerkhoff als digitalisiert – zumindest für die meisten Backoffice-Tätigkeiten. Jeder sei doch froh, wenn „eher langweilige Aufgaben wegdigitalisiert seien“. Spannender sei der Fokus auf Entscheidungsunterstützung und Steuerung. Die Abspaltung der Aufzugsparte könne eine künstliche Intelligenz nicht planen und managen.
Während die digitale Unterstützung von Forecasts und Planung bereits heute selbstverständlich sei, sieht Kerkhoff die Herausforderung darin zu erkennen, was die Daten nicht können: Die noch nicht dagewesene Disruption zu deuten, Ergebnisse zu interpretieren, Einschränkungen zu benennen. Insbesondere in Zeiten der Unsicherheit werden Szenarioanalysen immer wichtiger, aber menschliche Aufgaben wie die Festlegung einer unerlässlichen Zielgröße oder die Aufstellung der Mehrjahresplanung gewinnen noch stärker an Bedeutung.
Aus dem Publikum wurde darauf hingewiesen, dass die Interpretation digital erzeugter Planungs- und Rechenwerke profunde betriebswirtschaftliche Fachkenntnis voraussetze. Diese sei unerlässlich, um die Möglichkeiten der Digitalisierung voll auszuschöpfen. In die gleiche Richtung argumentierte auch Wieland-Blöse, die die Bedeutung des Denkens an der Schnittstelle von Betriebswirtschaftslehre, Daten und Informatik hervorhob.
Fünf zusammenfassende Thesen
- Die derzeitigen Unsicherheiten heben die Unternehmensteuerung auf ein noch nicht gesehenes Komplexitätsniveau. Unsicherheit ist ein bekanntes ökonomisches Problem, das allerdings derzeit durch eine schnelle und dynamische Verschiebung der unternehmerischen wie globalen Rahmenbedingungen befeuert wird.
- Unsicherheit hat realwirtschaftliche Auswirkungen. Supranationale wie nationale Institutionen kommt die Aufgabe zu, gemeinschaftlich und koordiniert ein ‚level playing field‘ zu schaffen und durchzusetzen, dass die Grundlage für Wohlstand und Wachstum legt.
- Unternehmen werden zu ‚Corporate Citizens‘. Beteiligung am politischen Diskurs ist wichtig, um den ‚purpose‘, die Sinnhaftigkeit der eigenen Tätigkeit und Werte darzustellen. Dies bedarf des Engagements des Managements ebenso wie von jedem Beschäftigen mit Personalverantwortung.
- Die Digitalisierung hilft, die Komplexität zu bewältigen, kann diese aber nicht kompensieren. Es können mehr Szenarien betrachtet und Forecasts schneller bereitgestellt werden, aber deren Interpretation verbleibt eine originär menschliche Aufgabe, die profunde betriebswirtschaftliche Fachkenntnisse voraussetzt.
- Betriebswirtschaftliche Theorien müssen neu gedacht werden. Bestehende Ansätze sind an die digitale Welt anzupassen. Eine größere Bedeutung gewinnen strategische und interpretative Analysen und Theorien.